Der Nikel Drachen - aus Wiener Luftschiffer Zeitung 1902

Die Apparate des Österreichers Nikel ziehen mehr und mehr die Aufmerksamkeit des Auslandes auf sich. Die Vorführung zweier dieser Drachen in Berlin anlässlich des letzten internationalen Congresses für Luftschifffahrt hat die dort versammelten Fachleute der ganzen Welt mit den Arbeiten des österreichischen Erfinders bekannt gemacht und deren lebhaftes Interesse erweckt. Es mag daher auch für weitere Kreise von Werth sein, ein Näheres über den ganzen Entwicklungsgang der Nikel-Drachenarbeiten zu erfahren. Selbstverständlich ist, dass, wie bei allen solchen Dingen sich die heutigen Modelle der Nikel-Drachen erst aus einer langen Reihe von Experimenten herauskrystalisirt haben, bei denen die verschiedensten Typen durchstudiert wurden.

Nachdem Herr Nikel seit langen Jahren schon die Flugtechnik theoretisch betrieben und gleichzeitig mit vielen kleinen Modellen Versuche gemacht hatte, trat er zum ersten Male im Jahre 1898 mit jenem grossen Drachen vor die Öffentlichkeit, der damals nicht blos in den Fachblättem, sondern überhaupt in der Presse eingehend besprochen und auch vielfach abgebildet worden ist. Die Hochnahme von fünf Kilogramm Dynamit, welches in 300 Meter Höhe zur Explosion gebracht wurde, hat auch militärischerseits berechtigtes Aufsehen erregt. Es war die Type 1, welche auch seither trotz mannigfachen Modification doch die Grundlage aller weiteren Apparate bildete und sonach im Prinzip erhalten blieb. Von da ab war nicht mehr die flugtechnische Seite der Sache die Hauptschwierigkeit in der weiteren Entwicklung, sondern die Schwierigkeit erwuchs vielmehr von der Technologischen Seite, d. h. aus der Materialfrage.

Der Erste Nikel Drachen entstand im Jahre 1898. Er wurde im August desselben Jahres auf dem nächst Krzeszowice (in Galizien) gelegenen Hügel Vinica praktisch erprobt. Dieser Drache bildet die Grundlage für alle folgenden Typen, er basirte auf dem Prinzip der Flächenteilung und bestand aus sechs Paar flügelnförmigen Drachenflächen, welche auf der Achse in bestimmten Abständen angebracht waren. Das Gerippe der Drachenflächen war aus Weidenruthen hergestellt, über welche Shirting gespannt wurde. Die Flügelflächen waren untereinander, mit der Achse und den beiden Steuern fest verbunden. Die Länge des ganzen Drachen betrug 9 Meter, die Breite 4,5 Meter und die gesammte Tragfläche 12 Quadratmeter. Das Gerippe, auf dem die Drachenflächen angebracht waren, bestand aus zwei mässig in der Drachenebene gebogene Fichtenstäbchen und beiderseits darauf befestigten Querstäbchen, welche untereinander und mit den beiden Stäben durch ein brückenartiges Gitterwerk aus Stahldraht verbunden, die Achse bildeten und derselben eine grosse Steifheit verliehen. Das Gesammtgewicht des Drachen betrug 7,5 Kilogramm.

Die ersten Versuche mit diesem Drachen wurden bei Windgeschwindigkeiten von 3-5 Meter angestellt.Vermittelst einer Haspel und einer 340 Meter langen Leine wurde der Drachen in die Höhe gelassen; er hob sich bei einem Neigungswinkel von 45 Grad und blieb bei steiler Leine vollkommen ruhig stehen. Die Leine wurde langsam nachgelassen, und nun stieg der Drache auf ihre ganze Länge von 340 Meter. Eine specielle Ausbalancirung des Drachen wurde gar nicht vorgenommen. Zur Sicherheit des Landens wurde am Steuerende eine zehn Meter lange, frei herabhängende Schnur befestigt, welche sich vortrefflich bewährte, da der Drache durch flaches Niederlegen vor Beschädigungen bewahrt blieb. Die Tragfähigkeit des Drachen war ziemlich bedeutend. Mehrfach vorgenommene Ballastproben ergaben bei einem Wind von circa 5 Meter Geschwindigkeit in der Secunde eine Tragfähigkeit von 8-10 Kilogramm, wobei die Leine von 4,5 Kilogramm nicht mitgerechnet ist. Der eben beschriebene Drache wurde auch zu Wetterschiessversuchen verwendet. Die Versuche wurden in der Weise ausgeführt, dass man durch fortschreitendes Herunterdrücken der Leine den Drachen so weit herabholte, dass die Landungsschnur ergriffen werden konnte. Durch Befestigung von adjustirten Dynamitpatronen hintereinander an dieselbe wurde nach Anbrennen der abgezweigten Zündschnüre der Drache wieder hochgelassen. Erst in voller Höhe explodirten die Patronen nacheinander unter scharfem Knall.

Auch zum persönlichen Gleittluge wurde der Drache verwendet; derselbe wurde nach einem Anlaufe durch Absprung von 8 Meter hohen Terrainstufen eingeleitet. Es konnten selbst bei Windstille Schwebezeiten bis 30 Meter erreicht werden.

Ermuthigt durch das grosse Interesse, welches schon die ersten Versuche in Fachkreisen erregten, liess Nikel noch einige grosse Drachen derselben Typen bauen, bei denen vor Allem durch geeignete Wahl des Materiales eine grössere Sicherheit angestrebt und auch auf die Demontirungs- und Transportfähigkeit Rücksicht genommen wurde.

Der Type Nr. 2 war nach dem gleichen Prinzip wie Type Nr. 1 construirt. Zur Herstellung des Gerippes wurde Bambusholz verwendet.

Die dreitheilige Achse hatte die Form eines sehr schmalen Kielbootes. An diese Achse waren fünf Flügel angesehraubt, welche mittelst aushängbarer Spanndrähte fixirt werden konnten. Der ganze Drachen hatte eine Länge von 7,6 Meter, die grösste Breite betrug 5 Meter. Die einzelnen Flächen waren untereinander noch mittelst Gummizügen verbunden; dadurch wurde das Durchbiegen des Stoffes bedeutend vermindert. Das Gewicht des Drachen betrug 8 Kilogramm bei 15 Quadratmeter Fläche. Der Drache erwies sich als Steilsteher, das heisst er ereichte bei einem Wind von 8-10 Meter Geschwindigkeit in der Secunde Elevationswinkel über 70 Grade, troztdem er in zwei Blechbüchsen einen Ballast von 6 Kilogramm trug. Obwohl dieser Drache einen verhältnismässig kräftigen Zug und grosse Tragfähigkeit besass, war seine Stabilität in der Längsachse nicht die erwünschte. Die Ursache dieser Erscheinung sieht Nikel in folgenden zwei Gründen:

Erstens war die Bordwandbildung durch Biegung der Flügelenden eine verhältnismässig geringe, und zweitens war das Verhältniss der Länge zur Breite ziemlich ungünstig Die schlimmen Erfahrungen, weiche Nikel mit Bambusrohren machte, da die meisten durch kleine Borkenkäfer derart verletzt wurden, dass sich sie Holzfasern in Bohrmehl verwandelten, bewogen ihn, bei der folgenden Type Nr. 3 ein anderes Material zu versuchen.

Das Gerippe des Drachen Nr. 3 wurde daher aus bestem Tannenholz, sogenanntem Resonanzholz, hergestellt. Die Gesammtlänge des Drachen betrug 8,2 Meter, die Breite 4,5 Meter und das Gewicht 10 Kilogramm. Das Gerippe des Drachen bestand aus einer zweitheiligen aus oblonggekrümmten, überkantigen Stangen gebildeten Achse, welche biconvexprofilirten Traversen und darin eingelassenen Stützen eine gitterartige Stahlverspannung trug, wodurch sie steif und torsionsfest erhalten wurde. Auf dieser Achse waren nebst den Horizontal- und Verticalsteuer mittelst Schrauben sechs Armträger befestigt, welche beiderseits je drei parabolisch nach abwärts gekrümmte Rippen trugen auf deren Enden die mit Ledertaschen versehenen Flächenüberzüge aus mit Wachs imprägnirtem Marzelin aufgesteckt werden konnte.

Das Horizontalsteuer war 10 Grad zur Drachenebene geneigt. Auf der Spitze war noch ein kleines dreieckiges Segel angebracht. Mittelst aushängbarer Stahldrähte waren die Flächen und beide Steuer so mit der Achse fixirt, dass eine Verschiebung in der Drachenebene unmöglich war. Der Drache war leicht zerlegbar und konnte in zehn Minuten von drei Mann montirt werden. Die Waage (Gehänge) war dreitheilig und so eingerichtet, dass sich der hintere Theil durch eine eingeschaltete Federwaage bei Windüberdruck verlängerte, wodurch der Neigungswinkel verkleinert wurde.

Das Hochlassen erfolgte ursprünglich durch einfaches Erheben der Spitze bis zu circa 45 Grad gegen den Wind. Bei dem grösseren Gewicht, der Länge der Achse und der Steifheit der Tragflächen war dies nur schwer möglich und konnten namentlich Seitenstösse des Windes gar nicht parirt werden, was bei der Unstetigkeit der Windrichtung wiederholt ein Kentern und in den meisten Fällen eine Beschädigung des Drachen nach sich zog. Aus diesem Grunde wurden an der Spitze der Achse eine kleine Aluminiumfahne so befestigt, dass sich deren Stange stets vertical stellen konnte. Man konnte auf diese Weise in jedem Augenblicke die Windrichtung wahrnehmen und die Correction des Standes bewirken. Zur Verhinderung des Kenterns wurden nahe der Spitze zwei circa 10 Meter lange Sturmleinen befestigt und zum Hochheben der Spitze eine 5 Meter lange, mit einer Gabel versehene Bambusstange verwendet. Am Steuerhals war überdies eine 20 Meter lange Landungsleine angebracht. Das Hochlassen erfolgte in der Weise, dass zunächst ein genügendes Stück Stahldraht in der Windrichtung abgewickelt wurde; hierauf wurde das Drahtende mittelst Carabiner an dem Gehänge befestigt. Nun wurde der Meteorograph angehängt und mittelst der Stange die Spitze gehoben. Der Steuermann hielt das Verticalsteuer am Boden fest und je ein Mann ergriff die Sturmleinen. Jetzt wurde der Drache so lange rechts und links bewegt, bis die Drachenachse und der Stahldraht mit dem Haspel in der Richtung der Windfahne standen. Sobald dies der Fall war, wurden die Sturmleinen so lange nachgelassen, bis der Drache freischwebte. War der Wind günstig, so wurden die beiden Sturmleinen gleichzeitig losgelassen und der Drache stieg ruhig in die Höhe. Es wurden mit diesem Drachen mit 2000 Meter Draht wiederholt Höhen bis 1400 Meter erreicht.

Durch die Unerfahrenheit eines Gehilfen, der sich beim Lanciren des Drachen in heftigem Winde mit seinem ganzen Gewicht an die Landungsleine anhängte, brach der Drache in der Luft in einer Höhe von beiläufig 30 Meter mitten entzwei, stürzte zu Boden und zerschellte vollständig.

Dieser Unfall bewog Nikel, von den grossen Drachen zu deren Lancirung mehrere Mann nöthig waren, ganz abzusehen. Alle folgenden Constructionen hatten blos eine Tragfläche von 6 Quadratmeter. Diese Grösse wurde als die geeignetste gefunden, da ein derartiger Drache noch von einem einzigen Mann ganz gut regirt werden kann. Zwei oder drei auf demselben Seil hintereinander geschaltete Drachen von 6 Quadratmeter Tragfläche geben denselben Effect wie ein einziger grosser; ja sie besitzen auch noch eine grössere Sicherheit.

Theils durch dienstliche, theils durch Mangel an weiteren Geldmitteln sah sich Nikel gezwungen, ein volles Jahr lang die Drachenexperimente zu sistiren. Erst voriges Jahr, als Hauptmann Theodor Scheimpflug behufs Erlangung betriebssicherer Drachen für photogrammetrische Zwecke Nikel zur Wiederaufnahme der Versuche aufmunterte und neue Mittel zur Verfügung stellte, konnte an die weitere Ausgestaltung und Vervollkommnung des Drachen geschritten werden.

Für meteorologische und photographische Zwecke werden im Drachenatelier Scheimpflug-Nikel gegenwärtig vornehmlich drei Typen von je 6 Quadratmeter Fläche construirt.

Bei richtiger und fachmännischer Behandlung kann ein Drache einige Jahre gebrauchsfähig bleiben.

Aus dem Vorstehenden ist für Jedermann leicht zu entnehmen, dass es sich bei dem Nikel Drachen um eine ernste Sache handelt, die in ihrem gegenwärtigen Stadium der Entwicklung schon das Resultat einer mehrjährigen und fleissigen Versuchsarbeit repränsentirt.

Da nun der Nikel Drache auch schon, wie erwähnt, mehrseitig die Aufmerksamkeit des Auslandes auf sich gezogen hat, so wäre es gewiss in hohem Grade wünschenswerth, dass die ferneren Versuche jene Unterstützung fänden, welche zur weiteren Durchbildung und Vervollkommnung des Systems unbedingt nothwendig ist.

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